MENY

Forside >Artikler >Angsten for Eurabia >Die Angst vor Eurabia

Die Angst vor Eurabia

«Alle wirklich gefährlichen Ideologien enthalten Punkte, Haken und Muster, die der Wirklichkeit entnommen sind, und die jeder als Tatsache akzeptieren muss. Es ist unter anderem dieses Element von Tatsachen, welches es möglich macht, eine Fiktion mit verführerischer Kapazität aufzubauen.»


 

Dieser Artikel erschien am 29.07.2011 bei Dag og Tid, Oslo. Übersetzt von Jostein Sæther.

 

Das geplante und kalt ausgeführte Böse gehört zu den Dingen, die wir nicht ganz verstehen. Daher tauchten immer wieder die Worte «unverständlich» und «unwirklich» in den Kommentaren über die Bombe im Regierungsviertel in Oslo und insbesondere über den Massenmord auf Utøya auf.

Gleichwohl wurden bereits ähnliche schreckliche Ereignisse wie die systematische, langfristige geplante Hinrichtung von fast siebzig Menschen inszeniert im kleinen Urlaubsparadies in Tyrifjorden, wo die Jugendorganisation der sozialdemokratischen Partei Norwegens seit Jahrzehnten ihre Sommertagungen arrangiert. Wir brauchen nur zu den schrecklichen Völkermorden im letzten Jahrhundert gehen, um die Beispiele finden. Aber es ist schon früher passiert. Diese Art – politisch motiviertes – Böses gehört zu unserer Welt, und es ist eine unserer größten Herausforderungen, es zu durchschauen.

Das wird nicht einfach werden. Das industriell organisierte Böse unter Hitler wurde von Historikern und Philosophen 60 Jahre lang untersucht und interpretiert, und wir fangen gerade an, uns dem Begreifen anzunähern, wie es geschehen konnte. Vor einiger Zeit erschien der große Roman von Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten, in dem der Autor auf über tausend Seiten zu erklären versucht, wie es im Inneren der zumeist intelligenten und redseligen SS-Offiziere ausgesehen haben mag. Die Literatur über die Natur des Bösen wird sich auch künftig verbreiten und mit Erschrecken und Interesse gelesen werden. Wir wissen, dass so etwas existiert. Verstehen tun wir es nicht.

 

Das Weltbild

Einer der Schlüssel, die Doppelangriffe zu verstehen, kann im politischen Weltbild des Täters liegen. Dieses Weltbild hat dazu beigetragen, die Aktion für ihn selbst zu legitimieren. Sein politisches Weltbild geht aus mehreren Dokumenten hervor, die er selbst veröffentlicht hat. Dies gilt für die Bemerkungen, die er ab Herbst 2009 bis Herbst 2010 auf verschiedenen Websites hinterlassen hat. Vor allem gilt es für das Web-Manuskript 2083, ein 1500-seitiges Kompendium, das seine grundlegende Ideologie, sein Geschichtsverständnis und seine Strategie zeigt; es gibt ein Tagebuch, das zur gleichen Zeit eine detaillierte Einführung ist, wie man tödliche Bomben herstellt, eine Autobiographie in Interviewform und ein Video auf YouTube, das ein kurzes propagandistisches Referat des ideologischen Inhalts von «2083» enthält.

In der Einleitung zu dem Kompendium schreibt Breivik, dass etwa die Hälfte von anderen Autoren übernommen sei, und dass er die andere Hälfte selbst geschrieben habe. Die anderen Autoren müssen uns hier nicht beschäftigen, das Kompendium ist in jedem Fall Ausdruck seiner Weltanschauung.
 
Dass so viel Text von Anders Behring Breivik vorliegt, lässt seinen Angriff noch furchtbarer erscheinen. Er plante seine Aktion systematisch gezielt und arbeitete neun Jahre lang, um sie zu realisieren. Seine wichtigste Sache war das Buch, nicht das Abschlachten und die Bombe. Er nennt den Zwillingsangriff tatsächlich «the marketing operation». Die Ermordung von etwa siebzig Menschen als ein Teil der Vermarktung seiner Ideologie.
 
Kern dieser Ideologie und dieses Weltbildes ist der Kampf gegen den Islam. Das Ziel ist eine europäische Revolution, die in der Zukunft, in einigen Jahrzehnten stattfinden soll. Während kommende «Tempelritter» bewaffneten Widerstand betreiben, sitzt Anders Behring Breivik als «lebender Märtyrer» eingesperrt, mit der härtesten Strafe des Gesetzes, wie er selbst sagt. Das Gerichtsverfahren und die voraussichtlichen Haft auf Lebensdauer sind Teil seiner Strategie. Bis jetzt lief alles nach Plan, außer dass er im Gericht nicht in Gala-Uniform auftreten durfte.

 

Breiviks Eurabia

In den Augen von Anders Behring Breivik leben wir in einem Kampf bis auf den Tod, in dem der «Islam» ein konkreter Feind und die europäischen «Multikulturellen» die fünfte Kolonne sind. Diese Verräter, die «Kulturmarxisten», so seine Ansicht, haben die norwegischen Gesellschaftsinstitutionen infiltriert, in erster Linie die Presse, das Schulsystem und die Universitäten. Die Kulturmarxisten befürworten den Multikulturalismus, die Masseneinwanderung nach Europa, den Feminismus, die sexuelle Befreiung, Geburtenkontrollen und Abtreibungen.

Das Ergebnis dieses Programms bedeutet den Untergang der abendländischen Kultur durch die «demographische Kriegsführung» des Islam: die Masseneinwanderung und das reproduktive Ungleichgewicht wird dazu führen, dass ganz Europa islamisiert wird. In diesem Krieg steht die Bewegung der Linken zusammen mit den Islamisten zusammen, um jede Opposition gegen die Arabisierung zu untergraben. Dies geschieht, indem sie ihre Mediendominanz benutzen, um alle «kulturellen Konservativen» als Rassisten, Faschisten und Nazis zu definieren. Die Kulturmarxisten verfälschen die Geschichte, um die europäische Zivilisation in ein schlechtes Licht zu rücken, sie verherrlichen den Islam und dekonstruieren systematisch die europäischen Volksgruppen durch Masseneinwanderung. Ihr Ziel ist ein islamisiertes Europa oder «Eurabia», angeführt von der islamisierten UNO.

Anders Behring Breivik behauptet, dass dieser Prozess, der kulturelle Niedergang Europas, so weit fortgeschritten sei, dass er nicht mit demokratischen Mitteln gestoppt werden kann. Es sei notwendig, in einem längeren Widerstandskampf zu den Waffen zu greifen. Der Zwillingsangriff in Oslo und auf der Insel Utøya ist in diesem Kriegskontext gedacht. Breivik selbst sieht sich dabei als der Erretter Europas und Norwegens.

 

Weltverschwörung

Politisch kann Breivik so weit rechts eingeordnet werden, dass er über den Rand der politischen Skala fällt. Will man darauf bestehen, ihn auf der bekannten Skala zu behalten, würde uns das Unbekannte bei ihm entgehen. Zum Beispiel ist er in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes kein Nazi. Er ist Pro-Israel-Unterstützer und Philosemit, etwas, was im Widerspruch zur Grundidee des Nationalsozialismus steht, die von einer jüdischen Weltverschwörung ausgeht. Allerdings lässt sich sagen, dass er bei der gleichen Verschwörungstheorie geblieben ist und einfach die Juden durch die Muslime ersetzt hat.

Andere seiner Überzeugungen erscheinen verhältnismäßig normal. Man wird viele finden, die der Meinung sind, dass die Einwanderung nach Norwegen gestoppt werden muss; nach Umfragen findet sogar eine Mehrheit der Norweger dieses. Es ist nicht gerade eine Mehrheit der Norweger, die für Israel im Konflikt mit den Palästinensern sind, jedoch über 60 Prozent der Amerikaner sollen dieser Meinung sein. Eine puritanische Haltung zum Sexualleben ist bei uns selten geworden, aber sie existiert und für diese Haltung wird auch argumentiert.

Breivik setzt seine Standpunkte aber in einem konspirativen Rahmen und in einer militanten Perspektive ein. Die Kulturmarxisten und die Muslime stehen nicht nur für die Ansichten, die er nicht teilt, sie agieren auch als große Gruppen in einer geheimen und vorsätzlichen Unterwanderung unserer norwegischen Nation und unserer Zivilisation. Breivik glaubt an eine weltweite Verschwörung gegen die europäischen Völker. Er glaubt nicht an die Macht des Wortes, nicht in einen offenen Dialog, nicht an die argumentative, wissenschaftliche oder künstlerische Arbeit für seine Ideen. Er sieht die Meinungsunterschiede als Ausdruck eines Konflikts zwischen verschiedenen verfeindeten Volksgruppen, die an einem geheimen Weltkrieg teilnehmen.

Unter anderen totalitären Ideologien wurde bereits ähnlich gedacht. Sowohl Marxismus und Nationalsozialismus teilten Menschen in solche Gruppen, und zogen Trennlinien bezogen auf Klassen oder Rassen, und sie rechneten mit einem Krieg auf Leben und Tod zwischen den Gruppen. In jedem Fall endete es mit Millionen von gefangenen, geplagten und getöteten Menschen. Breiviks Kompendium hat etwas von diesem Geruch. Es wäre ein Trost gewesen, wenn er nur ein Nazi gewesen wäre, einen Rechtsfaschist oder sonst etwas Bekanntes, vor dem die meisten von uns wohl immun sind. Aber wenn die alten Viren wiederkehren, ist es dringend notwendig, ein Gegenmittel zu finden.

 

Ansteckender Wahnsinn

Anders Behring Breivik muss ein Wahnsinniger sein, aber sein Wahnsinn ist intellektuell geordnet in einer Weise, die ihn gefährlich infizierend macht. Es ist viel einfacher und bequemer für uns, seine Gedanken als reinen Nazismus oder reinen Wahnsinn abzutun, als zu versuchen, diese Gedanken zu verstehen und dagegen zu argumentieren. Aber es ist erforderlich, das Letztere zu tun. Alle wirklich gefährlichen Ideologien enthalten Punkte, Haken und Muster, die der Wirklichkeit entnommen sind, und die jeder als Tatsache akzeptieren muss. Es ist unter anderem dieses Element von Tatsachen, welches es möglich macht, eine Fiktion mit verführerischer Kapazität aufzubauen.

Eine solche Tatsache in der Anti-Dschihad-Fiktion von Breivik berührt die Krise der europäischen Kultur. Man muss kein Extremist sein, um zu glauben, dass diese Kultur oder Zivilisation in einer Übergangsphase mit unklarem Ausgang steht. Solche Übergangsphasen hat es schon früher gegeben. Die christliche Zivilisation des Mittelalters ist weg und kommt nicht wieder. Das gleiche gilt für die Vorkriegszivilisation, die Stefan Zweig «die Welt von gestern» nennt. Das Christentum hat seine zentrale Position in der Gesellschaft verloren und wird sie nicht wiederbekommen. Die Säkularisierung der westlichen Welt hat christliche und religiöse Werte marginalisiert und sie durch die Ideale der Aufklärung über Menschenrechte, individuelle Freiheit, Demokratie und Vernunft ersetzt. Moderne Technik und Globalisierung haben geographische Entfernungen schrumpfen und Grenzen verschwimmen lassen. Waren, Ideen und Menschen fließen mehr oder weniger frei in der Welt.

Wenn die Zuwanderung aus religiösen zu säkularen Kulturen dazu führt, dass verschiedene ethnischen Gruppen Parallelgesellschaften bilden, kann es unter ungünstigen Umständen zu Konflikten führen. Wenn ein Wertekonflikt zwischen parallelen Gesellschaften entsteht, in denen es je eine religiöse und eine säkulare Ausrichtung gibt, ist es nicht sicher, dass die säkulare siegen wird. Es mag sein, dass eine säkulare Gesellschaft mit nur Aufklärungsidealen auf Dauer nicht überleben kann. Viele Utopien, die gedacht und entwickelt wurden, basieren auf dem Gefühl, dass wir in einer solchen Krise leben. Aber es besteht ein signifikanter Unterschied zwischen einem Krisenbewusstsein mit dem Glauben, dass die säkularisierte europäische Kultur unter einem Wertevakuum leidet, und einem militärischen Gruppenbewusstsein, das «zum Schutz Europas» gegen fremde Völker Bomben und Massenmord einsetzen will.

 

Kein Christlich-Fundamentalist

Breiviks kulturelle Perspektive ist rein militaristisch. Er versteht nicht, dass ein Problem der europäischen Kultur darin bestehen kann, dass sie ihre rein spirituelle Überzeugungskraft verloren hat. Er fragt nicht, wie die europäischen Aufklärungsideale von innen gestärkt werden könnten, oder was notwendig ist, damit verschiedene Kulturen und Gruppen von Menschen in Frieden nebeneinander leben können, wie sie es weitgehend in Europa über mehrere Jahrtausende getan, bis uns der verhängnisvolle Nationalismus im 19. Jahrhundert beeinflusste. Stattdessen will er nur die anderen töten und vertreiben. Sein gesamtes Kompendium, und zwar seine eigenen Texte als auch die von den Gegnern des Dschihad, erscheint auffallend auswendig gelernt; er nennt sich selbst Christ, aber kein Wort weist darauf hin, dass er eine innere Beziehung zum Christentum hat.

Sein Kompendium ist aus mehreren Quellen zusammengesetzt, und es steht unvereinbare Dinge in ihm. Aber zehn Mal verwendet er den Begriff «christlicher Atheist». Damit meint er eine Person, die nicht an Gott glaubt und nicht religiös ist, sondern zu dem gehört, was man früher die christliche Welt nannte, und die wir heute als den westlichen Kulturkreis bezeichnen. «Die kulturellen Faktoren sind wichtiger als deine persönliche Beziehung zu Gott, Jesus oder dem Heiligen Geist», schreibt er als Erklärung dafür, dass ein westlich-kultureller Atheist als «Templer» verstanden werden und gegen die Muslime kämpfen kann.

Er beschreibt die Religion als Krücke für schwache Seelen. Aber er vermutet, dass er Gott um Hilfe zur Unterstützung bitten wird, wenn «ich durch die Stadt mit lodernden Waffen rasen werde». Aber noch mehr Hilfe, so glaubt er, könne er von den Steroiden beziehen, mit denen er sich vor der «Operation» berauschen wird, weil das Ephedrin «meine Aggressionen, meine körperliche Belastbarkeit und meine mentale Konzentration mindestens zu 50-60 Prozent» erhöhen wird.

Gebet, Glaube, heilige Kommunion und andere christlichen Rituale werden empfohlen als mentale Aufrüstung auch für atheistische Mörder. Anders Behring Breivik glaubt an eine höhere Macht oder Gott, aber vorzugsweise in Zuständen der «extremen Stress oder Gefahr». Aus seinem Kompendium geht hervor, dass er Agnostiker mit einem pragmatischen und instrumentellen Verhältnis zum Christentum ist. An einer Stelle nennt er sich dabei «100-prozentiger Christ», sagt aber gleichzeitig über sich selbst, dass er keine starke persönliche Gottes-Beziehung hat, und dass «der Wissenschaft absolutes Privileg eingeräumt werden muss gegenüber der biblischen Lehre». Er ist also kein christlicher Fundamentalist. Denn diese setzen zuerst den Bibeltext voraus.

 

Ein gefährdetes Kollektiv

Er bezeichnet sich selbst als «ein Kulturkonservativer», zeigt aber keinerlei Engagement für den Einblick in die europäische Kulturtradition. Er nennt viele große Werke aus der europäischen Literatur, aber nichts deutet darauf hin, dass er sie wirklich gelesen hat. Er sagt sogar direkt, dass er den Begriff «kulturell konservativ» für sich selbst nutzt, weil der Begriff «national» einen solchen schlechten Ruf hat.

Ich denke, dass «Nationalist» in die richtige Richtung zeigt. Anders Behring Breivik ist ein militanter, gruppenorientierter Nationalist oder Eurozentriker, der die Welt und die Geschichte erlebt als einen darwinistischen Überlebenskampf zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen. Es ist die Gruppe und «die Art», die für ihn zählt, nicht das Individuum. Es ist zum Teil dieses Gruppendenken oder vielmehr seine Identifizierung mit dem, was er wahrnimmt als ein gefährdetes Kollektiv, das solche Aktionen wie den Doppelangriff ermöglicht. Denn wenn die Welt als ein Krieg zwischen den Kollektiven erlebt wird, verschwindet nicht nur man selbst als Individuum, dann verschwinden auch die Opfer als Individuen. Die Menschen werden wegen einer Idee abgeschlachtet. Und derjenige, der nicht an die Macht des Wortes glaubt und keine Ideen mit Glaubwürdigkeit hat, lässt die Gewehrmündungen sprechen. Es war nicht die «europäische Kultur», die in Oslo und Utøya sprach sondern die extreme kulturelle und sprachliche Verarmung.

 

Der Hass gegen Norwegen

Anders Behring Breivik ist eine durch das Internet radikalisierte Person, tief beeindruckt von Hass auf das norwegische Establishment und mit einer subkulturellen Ideologie, die den Hass in Massenmord münden lässt. Nach dem Doppelangriff haben viele sich gefragt, wie ein solcher Hass auf das offizielle Norwegen möglich sein kann, und nur wenige haben gute Antworten gegeben. Wir leben doch im besten Land der Welt?

Studiert man aber die einschlägigen sozialen Medien und Websites für die politisch Marginalisierten, lässt sich feststellen, dass ein solcher Hass weit verbreitet ist. Die «multikulturelle» norwegische Gesellschaft mit der Gleichheit zwischen den Bevölkerungsgruppen und den Geschlechtern und der liberalen Einstellung gegenüber Minderheiten aller Art ist sicherlich nicht von allen geliebt. Sie ist auch gehasst. Aber diejenigen, die diese Gesellschaft hassen, kommen in der Regel nicht zu Wort oder sie sind so aggressiv in ihrem Sprachgebrauch, dass sie in den normalen Medien nicht zugelassen werden. So erleben sie sich geknebelt und unterdrückt, ohne Organ und Sprachrohr. Das schafft ein Gefühl der wütenden Ohnmacht.

Gleichzeitig wissen wir, dass der Terrorismus Mittel zum Zweck und ein Ausdruck von Ohnmacht sein kann. Zwischen wütenden, hasserfüllten, gruppenorientierten Menschen, die ihre eigenen gemeinsamen Werte mit Füßen getreten wissen und erleben, dass sie in der breiten Öffentlichkeit mit ihrer Sache nicht zu Wort kommen, könnten früher oder später Menschen auftauchen, die zu «anderen Mitteln» greifen, um auf sich aufmerksam zu machen, vor allem dann, wenn auch noch ein ideologischer Untergrund aufgebaut wird, der solche Mittel legitimieren kann.

 

Die Wirklichkeit als Spiel

Breivik hat aber sein Weltbild nicht nur bei seinen Gesprächspartnern im Internet gefunden. Er verbrachte auch viel Zeit mit Online-Spielen. Im Kompendium sagt er, dass die Spielsucht eine gute Ablenkungsgeschichte für diejenigen sein kann, die viel Zeit benötigen, um einen Angriff vorzubereiten. Wenn jemand zu seinen Freunden sagt, dass er spielabhängig geworden ist, und dass er sich deshalb schämt, kann er aus dieser Deckung heraus seine Vorbereitungen treffen, ohne dass die Freunde es bemerken. Damit verdeckt Breivik, dass er tatsächlich viel Zeit mit diesen Spielen verbrachte. In World of Warcraft (WoW) nannte er sich selbst «Anders Nordic» und «Conservatism» und hinterlegte das vielsagende Zitat: «Es ist besser gehasst zu werden, als in Vergessenheit zu raten.»

Bedenkt man, dass das Spiel der WoW als ein Kampf und ein Schlachten auf begrenzten und natürlichen «Karten» stattfindet, ist es fast unmöglich, nicht zu denken, dass Utøya der Teil einer solcher Landkarte oder ein abgegrenztes Gebiet des Spiels geworden sein kann, in dem der Held ruhig seine – in Zahlen überlegenen – Feinde überwindet und tötet. In einem anderen Computerspiel, «Modern Warfare», das er viel gespielt hat, ähnelt die grundlegende Handlung dem Massaker auf Utøya: Ein russischer Nationalist geht durch die große Halle eines Flughafens in Moskau und tötet Zivilisten massenweise.

 

Der Templer-Orden

Seine Geschichte im Kompendium über den neuen geheimen Templer-Orden, der von zwölf Europäern in London im Jahr 2002 gegründet worden sein soll, hat etwas Spiel- und Traumhaftes. Dieser Orden soll vier militärische Grade haben. Es ist die Rede von Ritualen und Versprechungen wie in einem Rollenspiel. Die vielen und langen Listen über die verschiedenen Grade, Eigenschaften, Mottos, etc. sind geradewegs aus der Spielwelt entnommen. Und die Fotos am Ende des Kompendiums zeigen Breivik selbst als eine animierte dreidimensionale Figur, anspruchsvoll in verschiedenen Rollen, gleichsam wie selbst erstellte Kreaturen in einem Computerspiel. Als er fordert, dass er vor Gericht in einer Uniform auftreten möchte, wird klar, dass er mit seinen Waffen nicht nur geradewegs aus der Spielwelt hervortritt, sondern dass er seine Spielwelt auch allen anderen aufzwingen will. Eine Verteidigung seiner Aktionen kann er sich nur als Fiktionsfigur in einer fiktiven Welt vorstellen und ertragen.

An der Grenze zwischen der Spielwelt und der Realität spricht er von «der abscheulichen Natur unserer Operationen», die notwendig sind, um die Europäer aus der Tatenlosigkeit zu wecken und gegen Kulturmarxisten und Muslime zu kämpfen. Wahrnehmbar nur für sich selbst, überschreitet er die Grenze vom Spiel zur Realität: «Haben Sie zunächst beschlossen, anzugreifen, ist es besser, zu viele als zu wenige zu töten, sonst riskieren Sie, die gewünschten ideologischen Auswirkungen des Angriffs zu reduzieren», ist einer von vielen Ratschlägen an seinen hypothetischen Nachfolger. So zieht er seinen Spieltracht an, sprengt das Regierungsviertel und fährt nach Utøya.

 

Mehr Transparenz

Der norwegische Ministerpräsident hat in einer seiner Reden gesagt, dass dem Doppelangriff auf die norwegische Demokratie mit «mehr Demokratie» entgegnet werden soll. In der Praxis wird es unter anderem heißen, dass wir dafür sorgen müssen, dass die berechtigten Gesichtspunkte, auch wenn sie jetzt gerade mit dem Massenmord in Verbindung gebracht werden, jetzt nicht vernachlässigt werden dürfen. Es muss mehr und nicht weniger Offenheit und freie Debatte geben über schwierige Themen wie Einwanderung, Integration und Islam, etc. Es müssen weniger, nicht mehr faule Eier auf die Meinungsgegner geworfen werden.

Mehr Transparenz ist notwendig im Hinblick auf divergierende Meinungen in der Presse und es muss für noch deutlichere Ablehnung der gewaltsamen Elemente in Politik und Alltag gesorgt werden.

 

Der Autor Kaj Skagen, 1949 geboren, ist norwegischer Schriftsteller und Essayist. Er debütierte 1971 mit dem Gedichtsband Gatedikt («Strassengedichte») und publizierte seither zahlreiche Gedichtsammlungen, Romane und Essays. Für den Roman Broene brenner («Die Brücken brennen») erhielt er 1982 den ersten Preis im Romanwettbewerb des Verlags Gyldendal. Mit seinen Essays über «Gründe und Abgründe in der norwegischen Literatur», Bazarovs barn («Die Kinder Bazarows»), löste er die grösste norwegische Literaturdebatte in den 1980er Jahren aus. Für seine Essaysammlung Natt til dommedag («Nacht vor dem Jüngsten Gericht») wurde ihm der Riksmål-Preis verliehen. 1978-1989 gab er die Zeitschrift Arken aus. Zahlreiche seiner Artikel sind auf Deutsch in der Zeitschrift Kaspar Hauser / Individualität erschienen. Übersetzungen in mehrere Sprachen liegen vor. Kaj Skagen lebt in Bergen. Auf Deutsch: Der Legendenzyklus Der Baum des Lebens (Pforte Verlag, 2005). Sein bisher letzes Buch ist die Gedichtsammlung Sarosperiodene (2009).

 

Die Artikel «Die Angst vor Eurabia» hier lesen.

Forside >Artikler >Angsten for Eurabia >Die Angst vor Eurabia